Stärkung von Resilienz und selbstreflektorischer Kompetenz:
Alltag bei der Alltagsreflexion –
ein Update mit Landespolizeiseelsorger Uwe Hackbarth-Schloer
Die Nächte in der Düsseldorfer Altstadt sind oft lang - und feucht… Polizist:innen, die hier Streife laufen, treffen launige und aggressive Betrunkene und auf menschliche Abgründe. „Je länger die Nacht geht, desto näher kommt das Polizeiteam an die Belastungsgrenze“, hat Polizeiseelsorger Uwe Hackbarth-Schloer während seiner Hospitationen beobachtet. Nach sechs Stunden Einsatz in Bierdunst, Nieselregen und bei vier Grad gehen Kraft und Geduld irgendwann zur Neige – die psychische und physische Grenze wird spürbar. Verständlich. Menschlich.
Aber es „darf“ nicht sein: Der Polizeiberuf fordert viel, vor allem Selbstbeherrschung. Neben körperlicher Präsenz verlangt er, in emotionalen Grenzsituationen ruhig und freundlich zu bleiben: Nicht nur während solcher Nacht“wanderungen“ wie in der Düsseldorfer Altstadt, auch bei Verkehrsunfällen mit (schwer) verletzten Erwachsenen oder Kindern, bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt oder Begegnungen mit Menschen, die mit Drogen zugedröhnt und verwahrlost sind. Abgesehen von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Fußball-Rowdies oder Demonstranten. Egal, wobei, immer heißt es: Zusammenreißen, den Überblick behalten, Ruhe ausstrahlen, zur Hilfe bereit und fähig sein. „Eine psychische Hochrisiko-Tätigkeit“, fasst Uwe Hackbarth-Schloer die Anforderungen zusammen. „Der Polizeidienst ist auch psychisch ein extrem gefährlicher Beruf“, betont er, „die ständige Konfrontation mit Gewalt oder menschlichen Abgründen belastet das innere System dauerhaft.“ Und Schichtarbeit zum Beispiel torpediere zudem auch noch den Biorhythmus, was erwiesenermaßen der Gesundheit schade.
Den Alltag reflektieren: Ein Programm für mehr seelische Widerstandskraft
Um dieser Realität etwas entgegenzusetzen, wurde in der Polizei Nordrhein-Westfalen die Alltagsreflexion eingeführt. Das Programm geht auf einen Beschluss des Innenministeriums 2023 zurück, ursprünglich angestoßen durch die Debatte um rechtsextreme Chatgruppen.
Alltagsreflexion bedeutet: Einmal pro Jahr sollen sich alle Basisorganisationseinheiten der Polizei zusammensetzen, drei/vier Stunden lang innehalten und ihren Einsatzalltag bewusst reflektieren. Fachkräfte und Polizeiseelsorger:innen begleiten diese Termine, in denen Stress, Aggression und der Umgang mit belastenden Erlebnissen bearbeitet und eingeordnet wird.
Dabei geht es auch um Begegnungen mit „bestimmten Milieus, bei denen sich Einsatzanlässe und - Erfahrungen immer wiederholen und so einschleifen können, dass die Gefahr besteht, in gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit abzudriften“, umschreibt Uwe Hackbarth-Schloer den nervenaufreibenden Kontakt mit einigen Tätergruppen. Aber: „Wir (Polizeiseelsorger:innen) sind keine Extremismus-Jäger“, betont er.
Aus seiner Sicht ist Alltagsreflexion sehr komplex und verfolgt hauptsächlich die Stärkung der Resilienz, die Prävention von Zynismus und vor allem Entlastung im Einsatzalltag! „Es geht um die Entwicklung und Festigung von selbstreflektorischen Kompetenzen.“
Was früher bei einem Bierchen nach dem Dienst gefühlt eher „von selbst“ ablief, soll in der Gegenwart flächendeckend professionalisiert werden. „Man hat erkannt, dass dieses alte Ideal des Polizeikämpen, den nichts umwirft und der alles weg atmet und notfalls ein Bier durchzieht - und dann ist alles wieder gut, dass das ja weltfremd ist,“ so der Pfarrer.
Es ruckelt im System
Der Vorlauf, Alltagsreflexion zu installieren, war lang. (siehe Alltagsreflexion | Stiftung Polizeiseelsorge).
Nun läuft das Programm also NRW-weit – allerdings noch nicht im beabsichtigten Maße. Geplant war, über 40 Fachkräfte für ganz NRW neu einzustellen, tatsächlich sind es, bedingt durch die Haushaltssperre, nur noch ca. 24 psychosoziale Kräfte, die die Alltagsreflexion gemeinsam mit den Polizeiseelsorger:innen betreuen. Viel zu wenig für über 40.000 Polizeivollzugsbeamt:innen (Gesamtpersonal: rund 57.800 Beschäftigte).
Deshalb können längst nicht alle Einheiten erreicht werden. Bei der Kriminalpolizei beispielsweise nehmen nur die Kriminalwachen teil. Bei den Uniformierten sind es alle Dienststellen, erklärt Uwe Hackbarth-Schloer, der selbst ca. einmal pro Woche ein Team bei der Alltagsreflexion leitet.
Gute Idee, schwierige Umsetzung
Ein weiteres Problem: „Das Innenministerium verlangt, dass Alltagsreflexion gemacht wird, aber sagt nicht, wie Ihr das in Euren Dienstplan integriert bekommt. Wenn sich also eine Dienstgruppe für drei Stunden Alltagsreflexion zusammensitzen wollte, fiele die gesamte Dienstgruppe für diese Zeit aus. (Oder eben eine andere, die diese Dienstgruppe vertritt.) Da kann keine Anzeige aufgenommen werden und die Einbrecher vor Ort könnten in Ruhe arbeiten.“ Das geht also nicht. Folge: Die Alltagsreflexion wird obendrauf gepackt.
Beamte bauen nach der Frühschicht oder vor der Spätschicht noch drei Stunden an – oft in externen Räumen, weil überall auf Wachen und Dienststellen Raumnot herrscht. Plus Fahrzeit. Wer aus entlegenen Dienstorten dann auch noch anreisen muss, landet schnell bei einem 12-Stunden-Tag. „Statt Entlastung erleben manche die Reflexion an solchen Tagen als Belastung“, erlebt Hackbarth-Schloer. Das trüge nicht zur Förderung der Motivation bei.
Skepsis und Vorbehalte in den Dienstgruppen
Nicht nur aus diesen logistischen Gründen begegne(te)n viele Polizistinnen und Polizisten dem neuen Format zunächst mit großer Skepsis. Sie befürchteten, die Alltagsreflexion sei ein verdecktes Kontrollinstrument des Innenministeriums und diene der Suche nach bzw. Aufdeckung von „Fehlverhalten“. Andere hatten Sorge, dass sie in der Gruppe nicht offen über Ängste, Frust oder Überforderung sprechen könnten.
Dieses Misstrauen abzubauen war der entscheidende erste Schritt und hat sich fast durch das ganze erste Jahr gezogen, erinnert sich der Landespolizeipfarrer: Uwe Hackbarth-Schloer hat also viele Sitzungen mit einer persönlichen Vorstellung begonnen und vor allem seine Vorerfahrungen mit schwieriger Klientel beschrieben, unter anderem aus seiner Zeit als Pfarrer an Berufsschulen.
Denn „es gibt einen Punkt, wo Kommunikation nicht mehr funktioniert, weil Kommunikation darauf angelegt ist, dass mein Gegenüber mich hören und mit mir kommunizieren will. Wenn ich aber jemanden habe, der das nicht will, dann sind die Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt“, und mit solchen Menschen haben Polizist:innen öfter zu tun. „Wie sich das anfühlt kann ich gut verstehen.“
Ebenso wichtig seine klare Zusage, „was hier besprochen wird, bleibt in der Gruppe. Ich habe keine Berichtspflicht außer der, dass die Sitzung stattgefunden hat.“
„Erst dadurch gelang es, Vorbehalte abzubauen und eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der auch heikle Gefühle und Einsatzsituationen offen angesprochen werden können.“
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Nun also, nachdem „ich im ersten Jahr im Wesentlichen Werbung für das Format gemacht habe“, läuft das Programm jetzt im zweiten Jahr. Uwe Hackbarth-Schloer zieht ein gemischtes Fazit: Die Idee ist wichtig und richtig, die Wirkung in der Fläche aber noch begrenzt. Eine einzige Sitzung pro Jahr sei zu wenig, um nachhaltig Entlastung zu schaffen. Sinnvoller wäre eine häufigere, regelmäßige und freiwillige Teilnahme, die fest im Dienstplan verankert ist.
Klar ist, wenn das Programm funktioniert, entsteht eine spürbare Entlastung für die Polizeibeamt:innen – und ein Setting, das die Menschen im Polizeidienst dringend brauchen, um stark zu bleiben und dass sie auch nutzen. „Ich finde es toll, dass Polizistinnen und Polizisten so viel selbstreflektorisches Vermögen haben“, stellt der Pfarrer fest und unterstreicht damit seine hohe Wertschätzung für die Polizist:innen.
„Wir verlangen von diesen Menschen oft Übermenschliches“, sagt Uwe Hackbarth-Schloer. „Es wird Zeit, dass wir ihnen auch eine angemessene Unterstützung zugestehen.“
Bericht: Barbara Siemes
Wen es interessiert:
Ein genauerer Blick auf die Natur des Menschen offenbart, warum das Handeln im Polizeiberuf nicht selten zu fast unauflösbaren inneren Konflikten führen kann.